Das Dilemma mit der Folterandrohung im Fall Gäfgen




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Beitragvon miljas » 05.07.2008, 17:23

Hallo,

über diesen Link erschließen sich wohl noch mehr Quellen zu dem Thema:

http://de.wikipedia.org/wiki/Daschner-Prozess

Das Quellenmaterial ist sehr umfangreich.
Ich habe einmal überfliegend dieses Dokument, auf dem im Quellenverweis hingewiesen wird, gelesen:

Schriftliche Urteilsgründe in der Strafsache gegen Wolfgang Daschner F.a.M., 15.2.05

Dort kann man schon einige nähere Einzelheiten zu dem Fall erfahren.

Gäfgen wurde am 30.9.2002 gegen 16.20 Uhr festgenommen.
Die Befragungen liefen an diesem Tag bis gegen 1.00 Uhr des Folgetages.
Gäfgen wurde im Wesentlichen von einem einzigen erfahrenen Ermittler (einem Mann) verhört.
Bei den Ermittlungen und Verhören gegen Gäfgen war ein Polizeipsychologe einbezogen und teilweise direkt anwesend.
Der Polizeipsychologe war zu der Einschätzung gekommen, daß Gäfgen als selbsverliebt, arrogant und dem Geld verhaftet einzuschätzen sei.
Gemeinsam mit anderen ermittelnden Beamten wurde ein Stufenplan besprochen.
Danach sollten eine Konfrontation von Gäfgen mit den Geschwistern und den Eltern des Entführungsopfers (da sie persönlich miteinander bekannt waren) in Erwägung gezogen werden. Eine Konfrontation mit den genannten Personen hätte erfolgversprechend sein können, da Gäfgen nach deren Anerkennung strebte. Auch schlug der Polizeipsychologe vor, weitere Personen ausfindig zu machen, die Einfluß auf Gäfgen hätten und ihm hätten gegenübergestellt werden können.
Der Polizeipsychologe vermutete auch, daß alle Aussagen von Gäfgen fortdauernd Lügen waren.
Im Nachhinein ist dies insofern erklärbar, weil Gäfgen wußte, daß der Junge bereits tot war. Alle Apelle an sein Gewissen, daß das Überleben des Jungen und Gäfgens Beitrag dazu strafmindernd sein würden, waren deshalb eigentlich sinnlos. Dennoch mußte die Polizei den Angaben Gäfgens in aufwendigen Aktionen nachgehen und nahm von Gäfgen als Mittäter beschuldigte Menschen fest, um die Vorwürfe zu überprüfen.
Viele Ermittler waren irgendwann übermüdet.
Am 1.10.2002 war der bis 1.00 Uhr eingesetzte erfahrene Ermittler zunächst nicht anwesend, wie verabredet (ab 8.00 Uhr sollte er wieder einsatzbereit sein).
Eine Gegenüberstellung Gäfgens mit seiner Mutter gegen 8.00 Uhr führte zu keiner wahrheitsgemäßen Aussage.

Die von Daschner initiierte Drohung von "unmittelbaren Zwang" (wie es im Amtsdeutsch offenbar heißt) wurde dann von Kriminalhauptkommissar Ennigkeit gegen 8.40 Uhr umgesetzt, und zwar unter Umgehung aller anderen Beamten, die im Vorfeld auch über diese Option informiert wurden und die sie überwiegend ablehnend betrachteten.
Der zeitüberfällige Vernehmer traf dann kurz nach diesen Geschehnissen ein und war verärgert, daß das aus seiner Sicht sich aufbauende Vertrauensverhältnis durch diese Verhörmaßnahmen der anderen Beamten beeinträchtigt würde.
Auch die Staatsanwaltschaft, die man jederzeit hätte konsultativ einbeziehen können, und in dieser schwerwiegenden Entscheidung sogar hätte einbeziehen müssen, wurde umgangen.

Für mich ergibt sich nach dieser ersten Sichtung, daß die Polizei von Gäfgen an der Nase herumgeführt wurde und dann nicht über ausreichende Kapazitäten an Mitarbeitern verfügte, um ihre eigenen, sich aus der Anfangsarbeit (also im Ergebnis der ersten Verhörstunden) ergebenden Ermittlungsvorhaben zügig, oder überhaupt, umzusetzen zu können.
Ich habe bisher keinen Hinweis gefunden, wie man aus diesem Kapazitätsengpaß und kurzfristig herausfinden wollte (und zwar auf legalem Wege).

Grüße
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miljas
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von Anzeige » 05.07.2008, 17:23

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Beitragvon Gast-Chord » 05.07.2008, 21:38

Hallo Miljas,

ich habs nicht geschafft, mir die Aussagen ganz anzuhören (ich will gerade bei solchen Themen was schwarz auf weiß vor mir liegen haben, und Stellen auch mehrfach nachlesen können), und dein letzter Beitrag ist jetzt neu - den werd ich erst morgen lesen - aber ich hab zu dem Thema schon 2004 - ich glaub, es war sogar dieser Fall damals - in einem anderen Forum was geschrieben, das ich jetzt auch hier reinsetzen werd - ist alles noch aktuell, und ich vertrete da auch heute noch alles, was ich damals geschrieben hab.
Was ein Verbot der Folter und der Anrdrohung von Folter durch den Staat betrifft, stimme ich da mit dir völlig in der generellen Ablehnung überein.

Liebe Grüße

Chord
Gast-Chord
 

Beitragvon Gast-Chord » 05.07.2008, 21:44

Hallo, wie ichs grad in der Antwort an miljas geschrieben hab - hier folgen ein paar alte, aber nach wie vor aktuelle Forenbeiträge von mir aus dem Jahr 2004, die auch zum Großteil das Thema Folter und Verbot von Folter zum Inhalt haben,

Liebe Grüße,

Chord


Hallo xxx,

nicht immer ist das, was menschlich nachvollziehbar und verständlich ist, auch das objektiv für die Gemeinschaft Beste bzw. Richtige. Es gibt z.B. sehr viele Gründe, generell gegen die Anwendung von körperlicher Gewalt und insbesondere gegen die Todesstrafe und gegen Körperverletzung zu sein. Ich selbst bin auch ausnahmslos gegen die Todesstrafe und in nahezu allen Fällen auch gegen die Anwendung von körperlicher Gewalt. (Ich werde das hier nicht begründen, dazu könnte man ganze Abhandlungen schreiben.) Würde jedoch jemand meine Tochter vergewaltigen, so würde das in mir eine solche Welle an Emotionen auslösen - verständlicherweise - dass ich nicht garantieren kann, wie ich in so einem Fall reagieren würde - es ist durchaus möglich, dass ich ihm dann die Todesstrafe wünschen würde oder auch aus Wut über das, was er meiner Tochter angetan hat, körperliche Gewalt gegen ihn anwenden, wobei ich möglicherweise es nicht schaffen würde, mich auch nur im geringsten zurückzuhalten - vielleicht stirbt derjenige durch meinen körperlichen Angriff - menschlich hat wohl alle Welt Verständnis dafür - ich erinnere an den Fall Bachmeier, als eine Mutter den Mörder ihrer Tochter erschoss. Richtig finde ich das allerdings auch im ethischen Sinn nicht, so zu reagieren - und daher finde ich es gut, dass das Gesetz hier eingreift. Es wäre sonst Auswüchsen Tür und Tor geöffnet. Ich erinnere dich z.B. an die Fälle, die es mittlerweile leider sowohl in Deutschland als auch in Österreich gibt, in denen Polizisten oder Staatsbeamte körperliche Gewalt gegen Ausländer, die abgeschoben werden sollten, angewandt haben, und diese Ausländer an den Folgen dieser körperlichen Gewalt verstorben sind. Und das waren eigentlich Dinge, die noch nicht wirklich als Folter gedacht waren - im einen Fall war es "Knebeln", weil der Ausländer im Flugzeug schrie und tobte, im andern Fall war es "Sichern in Bauchlage": wenn derjenige nicht völlig gesund ist, und z.B. nicht durch die Nase atmen kann, ist so etwas schon sein Todesurteil.
Du sagst vielleicht, dieser Polizist hat ja nicht wirklich gefoltert, sondern es nur angedroht. Aber es ist schwer zu beurteilen, ob er das in die Tat umgesetzt hätte oder nicht. Schließlich war es ja dann bekannt geworden, dass der Junge bereits tot war, und damit war seine ursprüngliche Intention, dem Jungen das Überleben zu ermöglichen, ja ohnehin gescheitert. Wenn jemand zu mir sagt, er wird mich bei nächster Gelegenheit erdrosseln, ist das auch nichts weiter als eine Drohung - ich würde dann aber wohl auch Anzeige erstatten, weil ich mich gefährdet sehe.
Und denk das einmal weiter - wenn bekannt wird, dass z.B. Polizisten in solchen Fällen zwar drohen dürfen, aber dem Verdächtigen nichts antun, würde sich das doch früher oder später herumgesprochen haben - nicht zuletzt deshalb, weil diejenigen, die doch im Rahmen ihrer Vernehmung körperlich misshandelt würden, dagegen klagen würden und Recht bekommen - und die Drohungen wären somit bald völlig wirkungslos.
Du kannst also nicht fordern, dass das Drohen von Folter erlaubt, die Anwendung aber verboten bleiben soll.
Wenn du aber die Anwendung von Folter in Fällen wie dem geschilderten befürwortest, dann denk das einmal weiter.
Der Täter wird gefoltert - er gesteht. Fein.
Weniger fein an dem Ganzen ist, dass du davon ausgehst, dass offenbar nur jene Leute ein Verbrechen gestehen, die die tatsächlichen Täter sind. Du verstößt aber entweder massiv gegen die Unschuldsvermutung - ein Grundpfeiler der Justiz ist doch, dass Menschen, solange sie nicht rechtskräftig verurteilt sind, als unschuldig gelten. Oder aber du nimmst bewusst in Kauf, dass auch völlig Unschuldige gequält und gefoltert werden. Nun, es wird in der Justiz auch in Kauf genommen, dass völlig Unschuldige in Untersuchungshaft kommen, aber hier sind die Relationen schon ein bisschen anders:
Du kannst dir in etlichen Ländern, in denen Folter angewandt wird, ansehen wohin das führt. Unter Folter, damit sie wirksam ist, tut es da eine Ohrfeige sicher nicht, würde früher oder später nahezu jede/r etwas zugeben, das ihm/ihr zur Last gelegt wird oder irgendetwas antworten, von dem er denkt, dass die Antwort genehm ist, bloß, damit die Qualen aufhören.
Dass dabei "zufällig" der tatsächliche Täter ins Visier genommen wurde, kann in dem Fall keinen Unterschied machen in der Beurteilung. Es hätte auch einen Unschuldigen erwischen können, und wer schuldig oder unschuldig ist, das bestimmt zum Glück nicht die Polizei anhand des Augenscheins, sondern dazu ist eben ein Gerichtsverfahren erforderlich.
Auch müsstest du, wenn du Folter erlaubst, so makaber das klingt, die Polizisten auch zum Foltern ausbilden. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass sie die Folgen ihrer gutgemeinten Folterhandlungen überhaupt nicht abschätzen können, und ihre Opfer durch die Foltermaßnahmen fahrlässig töten oder verletzen, bzw. ihnen dauerhafte psychische Schäden zufügen, wie man allein schon an den oben erwähnten Fällen, die noch nicht einmal als Folter gedacht waren, sondern nur um die Verdächtigen ruhigzustellen, sehen kann.
Natürlich versteht jeder die Motive dieses Polizisten, und sie werden ihm wohl auch ziemlich sicher mildernd angerechnet, dennoch - würden alle Polizisten so denken, könnte man das Rechtssystem abschaffen.
Das "gesetzliche Allzweckmuster" hat in dem Fall durchaus einen Sinn - dadurch, dass diese Prinzipien eines Rechtsstaates eingehalten werden - sind Verdächtige nicht quasi Freiwild für die einvernehmenden Organe, und es wird der Schutz ihres Lebens und die Einhaltung der Menschenrechte garantiert. Natürlich ist es tragisch, dass dieser Junge ums Leben kam - aber genauso tragisch ist es, wenn ein völlig Unschuldiger durch Foltern ums Leben kommt (und sag nicht, dass so etwas nicht passiert, selbst einige der in den USA durch die Todesstrafe ums Leben Gekommenen sind nachweislich unschuldig gewesen, was sich oft erst Jahre später eindeutig erwiesen hat), und eigentlich ist es auch tragisch, wenn ein Schuldiger durch Foltern ums Leben kommt - denn zum Glück ist die Todesstrafe bei uns nicht vorgesehen. Natürlich ist es ungerecht, wenn etwa, jemand der 3 Menschen getötet hat, lebenslang bekommt. Jemand der 6 Menschen tötet, müsste demnach "doppelt lebenslang" bekommen. Du siehst, die gesetzliche Richtigkeit kann nicht in allen Fällen wirklich gerecht sein. Und es ist ja auch nicht so leicht generell zu bestimmen, was im konkreten Fall wirklich "ethisch richtig" ist und was nicht. Auch wenn jemand ein Mörder ist, gibt das niemandem - auch einem Exekutivorgan nicht - das Recht, denjenigen zu ermorden. Und in diese Richtung - Gleiches mit Gleichem zu vergelten, zielen aber deine Vorschläge.

Alles Liebe,

Chord



Hallo, zzz!

> Gut und böse - gibt es gar nicht.

Absolut gesehen, hast du da vermutlich recht. Aber können Menschen absolut sehen? Ich denke nicht.

> ...

Das ist aber deine Sicht der Dinge. Nach meiner Sicht sind Angriffe gegen Leib und Leben von Menschen mit Ausnahme von unmittelbaren Notwehrsituationen immer böse, auch dann, wenn diese Menschen selbst "böse" sind.

> ...
Da geb ich dir recht.

> ...

Aber oben hattest du ausgeführt, dass es das Gute und Böse nicht gibt. ;-) Und im gesamten weiteren Verlauf deines Beitrags bist du dir dann doch wieder sicher, was das 100% Richtige und Gute ist in dem Fall - und alle, die eine abweichende Meinung haben, sind blind und verblendet, auch wenn sie diese Meinung begründen können.
Wenn du meinen Artikel weiter unten liest, siehst du auch, dass meine Argumentation nicht unbedingt auf verblendeter Güte beruht, auch nichts mit Mitleid mit dem Täter zu tun hat.

> ...

Warum ich nicht denke, dass dieses Verhalten "vollkommen richtig" ist, habe ich unten ausgeführt. Aber ich halte es, wie gesagt, für menschlich nachvollziehbar und verständlich. Angemessen wäre vermutlich - ich kenne den Fall kaum - eine milde Strafe auf Bewährung, die diese Leute nicht den Job kostet. Das ist, glaube ich, der Fall bei Freiheitsstrafen unter einem Jahr oder so. (So oder aber mit einem Freispruch wird das Ganze vermutlich ohnehin ausgehen.)

Mal andersrum: Einen Menschen zu foltern, ist ja nicht so ohne. Wie würdest du mit einem Polizisten umgehen, der im konkreten Fall deshalb nicht foltert, weil er es gar nicht kann, massive Widerstände dagegen verspürt, das Mitansehen/Mitanhören der Schmerzen des Gefolterten nicht ertragen kann - meiner Meinung nach ist auch das eine normale und menschliche Reaktion. Der hat dann wohl falsch gehandelt, und ihm sollten disziplinarrechtliche Konsequenzen drohen?

> ...

Dass die Leute verblendet sind und auf Seiten der Täter stehen, glaube ich eher weniger, frag mal Menschen auf der Straße - ich bin mir ziemlich sicher, dass die Meisten das Verhalten des Polizisten gutheißen werden und sich nicht im klaren darüber sind, was das, weitergedacht, für Folgen hätte.

> Es gibt Fälle, wo man Grenzen ziehen. muss, ..

Ich verstehe unter Foltern und Notwehr etwas anderes, und glaube auch nicht, dass Foltern als Notwehr geeignet ist. Ich denke nicht, dass man Menschenrechte so einfach, wenn es einem gerade passt, außer Kraft setzen kann. (http://www2.amnesty.de/internet/deall.n ... /TH2004001, Artikel 5, 11 und 30)

http://www2.amnesty.de/internet/deall.n ... enDocument

In mindestens 70 Ländern der Welt wird bis heute gefoltert.

Linkübersicht Folter:
http://www2.amnesty.de/internet/deall.n ... Expand=3#3

Alles Liebe,

Chord

PS: ich weiß nicht, ob die Links so funktionieren, werde evtl. noch einen Beitrag druntersetzen deswegen.

----

Hallo, zzz!

> ...

Ja, das meinte ich eben - dass ich wohl vermute, dass es absolut gesehen kein Böse und Falsch gibt, dass dies aber keine menschliche Perspektive ist und damit eine, die dem Menschen nicht zusteht, und die er, selbst wenn er es wollte, nicht einnehmen kann. Ich bin jedenfalls noch keinem Menschen begegnet, der sowohl gesagt hat, dass es kein Gut und Böse gäbe in Wirklichkeit (das sagen doch einige) als auch dies auch in seinem Leben praktiziert hätte - dergestalt, dass er/sie konsequent darauf verzichtet hätte, diverse Missstände etc. anzuprangern. (Denn ohne Gut und Böse gibt es klarerweise auch keine Missstände.)

> ...

So total egoistisch sind eigentlich nur die wenigsten Menschen, also wenn jemand etwas, das für ihn selbst nützlich ist als für andere schädlich erkennt, würden die meisten diesen Weg nicht einschlagen.

> ...

Das mit dem Grenzenausweiten sehe ich auch so, allerdings sehe ich das nicht unbedingt als eine "Nützlichkeitsrechnung". Allein von diesem materialistischen Standpunkt der "Nützlichkeit" gesehen, wäre es wahrscheinlich tatsächlich "nützlicher" für eine Gesellschaft, zu foltern, töten und zu morden, indem sie Folter und Todesstrafe verwendet. Es würde z.B. Gefängniskosten und die Kosten für den Unterhalt dieser Menschen so eingespart werden können. Allerdings empfände ich ein solches Vorgehen als unzivilisiert und menschenverachtend. Angriffe gegen Leib und Leben sind - aus meiner beschränkt menschlichen Sicht - wirklich nur in unmittelbaren Notwehrsituationen zu rechtfertigen. Und wenn ich dein obiges Beispiel mit der Ausweitung hernehme, so kann ich auch sagen, dass es Zeichen eines solchen spirituellen Bewusstseins ist, wenn diese Ausweitung plötzlich dort stoppt, wo das Gegenüber kein junges, unschuldiges, sympathisches Kind ist, sondern ein "abstoßendes, unsympathisches, erwachsenes Monstrum". (Das ist hier jetzt nicht auf das Aussehen gemünzt, sondern auf das Wissen um die Verbrechen dieses Menschen.) Oder, wo man nicht nur um seine Nächsten und seine Nachbarn menschlich behandelt, sondern auch seine Feinde.

>... Grenzsetzungen.

Ja.

> ...

Ja, siehe oben und auch mein ausführliches Posting weiter unten. Da habe ich z.B. ausgeführt, dass es bereits Todesfälle durch Maßnahmen gab, die noch nicht einmal als Folter gedacht waren (in D, Ö, und F), und dass ein Befürworten der Folter in diesem Fall ein Freibrief für ähnliches in anderen Fällen wäre und es früher oder später auch zu Todesfällen kommen würde, und früher oder später, auch zu Todesfällen Unschuldiger. Wir reden hier ja nicht von ein paar Watschen, sondern von Folter.

>...

Klar hast du das Recht auf deine eigene Meinung. Ich hab nur darauf hingewiesen, dass du zuerst vehement den Standpunkt verfochten hast, dass es das Gute und Böse nicht gibt, anschließend aber eine ganz einseitige Sichtweise dessen vertreten hast, was du für den "guten" und "richtigen" Standpunkt in dieser Sache hältst. Diese beiden Dinge passen für ich irgendwie nicht zusammen.

> ...

>... Nicht eine >Sekunde lang tut dir das (sterbende) Kind leid, ... Dich interessieren nur die Rechte des Täters.

Diese Argumentation finde ich nicht sehr fair. Weil ich in dem Text hier nichts über das sterbende Kind geschrieben hab, heißt das nicht, dass ich kein Mitleid mit ihm hätte. Ich habe in der FAZ - da steht sehr viel zu dem Fall - jetzt nachgelesen: jener Beamte, der die Befragung eigentlich begonnen hatte, hatte dort ausgesagt, dass er sich sicher war, den Täter am kommenden Tag (eben jenem, wo ihm von diesem anderen Beamten die Folter angedroht wurde) zu einer Aussage bewegen zu können, ein hinzugezogener Psychologe hatte von Folterdrohungen abgeraten. Ein Beamter, der sich freiwillig bereiterklärt hatte, die Folterungen gegebenenfalls auf Geheiß durchzuführen, hätte eigens eingeflogen werden sollen oder wurde eingeflogen - alle anderen angefragten Beamten hatten sich geweigert.
Es hätte durch diese Folterungen leicht passieren können, dass der Täter irgendein falsches, weit weg liegendes Versteck angegeben hätte (was er schon einmal gemacht hatte), auch hätte er durch die Folterungen vernehmungsunfähig werden können - was wäre denn dann gewesen? Angenommen, das Kind hätte tatsächlich noch gelebt, und der Täter wäre während der Vernehmung bewusstlos und/oder sonstwie vernehmungsunfähig geworden - das ist ja keineswegs ein unwahrscheinliches Szenario, da es "ein bisschen Folter" ja nicht gibt - wie wäre die Situation dann zu beurteilen?
Und da der Täter nicht auf frischer Tat ertappt worden war, kann man auch nicht sagen, dass es "eindeutig" war, dass er der Täter war - für seine Täterschaft sprachen den Zeitungsberichten zufolge massive Indizien - das war auch bei einigen jener in den USA zum Tode Verurteilten der Fall, deren Unschuld sich Jahre später herausstellte. Übrigens waren auch im konkreten Fall zunächst vier unschuldige Tatverdächtige (1 Mädchen, 3 Männer) inhaftiert worden, deren Wohnungen mitten in der Nacht von einem Trupp vermummter Männer mit Maschinenpistolen gestürmt wurden.

>...

Im Fall Dutroux war nicht der Nichteinsatz von Folter, sondern Schlampigkeit der Behörden der Grund dafür, dass die Mädchen nicht entdeckt wurden. Zum Zeitpunkt der Hausdurchsuchung waren sie noch am Leben. (Zitat "Videos, Ketten, große Mengen Schlafmittels und frauenärztliche Instrumente konnten den Argwohn der Beamten nicht wecken." - dies nur einer von vielen Ermittlungsfehlern in diesem Fall.) Du kannst doch wohl nicht im Ernst fordern, dass man jetzt jeden Inhaftierten foltern dürfen solle, weil der ja möglicherweise noch nebenher ganz andere Straftaten begangen hat und man so möglicherweise Leben retten könne? Würdest d u denn derartige Foltermaßnahmen eigenhändig durchführen?

> ...

Das Kind war bereits am ersten Entführungstag ermordet worden. Und obwohl der Täter am 29.9. mit dem Auto das Lösegeld abholte und man wusste, dass er das Kind in seiner Gewalt hatte, wurde er erst einen Tag später festgenommen.
Und gerade in diesem Fall hätte man die Tat vermutlich durch ein Eingreifen zu einem viel, viel früheren Zeitpunkt verhindern können, wenn z.B. das Jugendamt oder der Pfarrer die Missbrauchsvorwürfe der Opfer ernstgenommen und adäquat reagiert hätten: http://www.regenbogenwald.de/news/2002-0910.htm
Derartige Dinge werden aber selbst heute noch gerne vertuscht.

> "Opfer" und "Opfer" sind hier nicht gleichzusetzen
...

Dass der Täter schwere Schuld auf sich geladen hat, und das Kind unschuldig war, steht wohl außer Frage. Dennoch sind die Leben der beiden insofern absolut gleichwertig, als - nach meiner Meinung - beide das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben. Das ist ein Menschenrecht, das allen Menschen zusteht - auch solchen, die selbst das Recht gebrochen haben. Und nochmal - es ging hier nicht bloß um Ohrfeigen oder Prügel, es ging u.a. um das Spritzen eines "Wahrheitsserums".
Dass das ungerecht ist, dass jemand, der einen anderen ermordet, mit dem Leben davonkommt ist keine Frage - es ist genauso ungerecht, wie, dass ein Mörder, der vier Menschen umgebracht hat, lebenslang bekommt, und ein anderer, der zwölf Menschen umgebracht hat, ebenfalls lebenslang. Wirkliche Gerechtigkeit in dem Sinn, dass die Maßnahmen in einem 1:1-Verhältnis den Vergehen/Verbrechen zuordenbar sind, gibt es nicht. Was ich auch schon mal gesagt habe: Auge um Auge, Zahn um Zahn ist für mich kein akzeptabler Handlungsleitsatz - auch dann nicht, wenn es sich um schwere Verbrechen handelt.

>...

Er hat z.B. sehr, sehr viel mit der Todesstrafendebatte zu tun. Und es ist ein Unterschied, ob Foltern absolut tabu ist, oder es mal hier, mal dort eine Ausnahme gibt.
Gibt dir das nicht zu denken, dass die Folterbilder aus den USA um die Welt gingen und das offenbar n i c h t abschreckend wirkte, sondern jetzt sogar in der deutschen Bundeswehr in einer Kompanie - mit 5 Haupttätern und insgesamt 21 Tätern (!) - die Rekruten misshandelt wurden, und das Ganze nur durch Zufall aufflog, weil von der Vielzahl der Betroffenen nur ein einziger überhaupt dachte, dass das wohl nicht rechtens zur Ausbildung gehören konnte und daher nachfragte??? (http://www.recht.de/index.php3?menue=Ak ... y8f4n.html) Warum glaubst du, wird denn derartiges plötzlich so "salonfähig"?
Was wäre, wenn die anderen vier Verdächtigen gefoltert worden wären? Schließlich wäre das auch in bester Absicht und zum Wohle des Kindes geschehen. Sie hätten zwar das Versteck mit Sicherheit nicht gewusst, aber wohl früher oder später eines erfunden, um den Qualen zu entgehen - gerade deswegen, weil man unter Folter eben jede beliebige Aussage erzwingen kann, ist sie auch, von menschenrechtlichen Aspekten abgesehen, so wertlos.

Das hat wie gesagt, mit mangelndem Mitleid für das Opfer und übergroßer Gnade für den Täter nichts zu tun. Ich würde auch als Selbstbetroffene, wenn mir oder jemandem, der/die mir nahesteht in meinem Umfeld Gewalt angetan wird, da differenzieren, zwischen dem, wie ich emotional und unmittelbar auf eine solche Gewalttat reagiere und dem was rechtens ist - letzteres schützt eine/n selbst und die Gesellschaft nämlich davor, allzu unbesonnen Dinge zu tun, etwa Gewalttaten, die nicht wiedergutzumachen sind.

Alles Liebe,

Chord
Gast-Chord
 

Beitragvon miljas » 06.07.2008, 08:25

Hallo Chord,

Danke für Deinen umfangreichen Beitrag.
Wenn toggle in seinem Erstbeitrag in Anlehnung an die Äußerung des Herrn Professors von einem Dilemma spricht, dann sehe ich auch ein Dilemma (für mich vor allem) darin ein schwieriges Thema einerseits möglichst umfassend und vollständig, und andererseits übersichtlich, kurz und knapp und geistvoll und unterhaltend darzustellen. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist nicht so einfach... Ich werde dabei bleiben, die allgemeine Problematik am konkreten Fall Gäfgen/Daschner weiter zu besprechen - denn dieser wurde ja von einigen dazu zum Paradebeispiel gemacht, wie angeblich notwendig eine Folter - wenn auch nur eine begrenzte - sei. Ich werde versuchen, an diesem konkreten Fall das Gegenteil zu beweisen.
Der von Dir genannte Link

www.regenbogenwald.de/news/2002-0910.htm

ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. Die dort gegebenen Informationen über pädophile Übergriffe von Herrn Gäfgen in früheren Zeiten gegen die Brüder R., über die Bemühungen der Mutter der Brüder R. und über das Verhalten der von der Mutter angesprochenen Verantwortlichen von Kirche und Behörden sind meiner Meinung nach bedeutsam im Sinne des Verstehens des Mordfalles, seiner Vorgeschichte und der Präventionsmöglichkeit dieses Kriminalitätsdelikts.

Ich stimme Dir zu - die Vorlage von Schriftstücken ist zum mehrmaligen Lesen, und damit zum vertieften Verstehen, bedeutsam. Darüber hinaus ist die Verfügbarkeit einer Gesamtinformation in Form verschiedenster Medien, wie zum Beispiel auch Ton- und Bildaufzeichnungen, und möglichst die direkte Kenntniss von Personen (und Orten und Umständen) natürlich das Optimum, das man aber aus verschiedenen Gründen leider nur anstreben kann. Aber man sollte es wenigstens versuchen. Insofern werde ich erst noch einmal den von mir genannten Gerichtsbericht zum Prozeß gegen Daschner erneut lesen und auszuwerten und dann nach weiteren Quellen suchen, um toggles Empfehlung, mich mit dem Fall vertraut zu machen, in die Tat umzusetzen.

Hier fand ich übrigens einen Hinweis auf eine Disseratation zu einer Thematik, die in diesem Zusammhang natürlich auch sehr interessant ist und auch im Zusammenhang mit den sich ausweitenden Daten- und Kontrollanforderungen des Staates eine große Brisanz bekommt:

"Wer kontrolliert die Polizei?" (http://books.google.de/books?id=b0jKAeD ... oc_s&cad=1)

bzw.: "Wer kontrolliert die (Polizei?" (http://www.grin.com/e-book/90548/wer-ko ... ie-polizei)

Viele Grüße

miljas
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Beitragvon Gast Meer » 07.07.2008, 07:39

Hallo Chord, Miljas und alle Leser,

wenn ich Folter, Folterandrohung und auch andere Drohungen, welche ein Geständnis zu erpressen als Ziel haben generell ablehne, dann muss ich auch folgerichtig und konsequenterweise in der Spirale nach oben ---- die Lüge, Betrug, Täuschungsmanöver, Verrat, Verkauf, Rufmord, Unterstellungen, Hintergehungen, Verdächtigungen, also jedes sog. Anschwärzen ablehnen und mich in ein ganz anderes Milieu begeben, wo so etwas nicht vorkommt und dann wären wir in einer heilen Welt.
Da es diese heile Welt so nicht gibt, gibt es eben menschengemachte gesellschaftliche Gesetze und Menschen wie Richter, Verteidiger und Polizisten u.a., die sich mit diesen Vergehen außerhalb der allgemein anerkannten Normen befassen müssen, worum ich sie nicht beneide und ich denke, sie wissen wie weit sie sich "mit" in dieses Verbrechensmilieu herablassen müssen, um ein gewisses Verständnis sowohl für den Täter, als auch für das Opfer heraus arbeiten zu können, um sich dann letztendlich ein rechtsgültiges Urteil erlauben zu können.

Hierbei geht es ganz einfach um knallharte Tatsachen, die aufwendig geprüft werden sollten, damit eben keine Fehlurteile dabei heraus kommen.
Dass es dennoch zu Fehlern auch bei der Polizei oder bei der Justiz kommt, liegt für mich nicht in einer unzureichenden Kapazität an verfügbaren Mitarbeitern, was durchaus auch möglich, aber eher unwahrscheinlich ist, gerade bei so einem Fall. Eher nehme ich Ablenkungsmanöver seitens des Täters an und eine Raffinesse, mit der evtl. nicht so gerechnet wurde und was auch alles verkomliziert hat, mit dem Ziel des Täters, sich eine mildere Strafe herauszuhandeln.

Fakt ist, dass die menschenverachtende Tat ausgeführt wurde, welche nach Staatsgesetzen unentschuldbar ist und ich bin strickt dagegen, egal durch welche Entschuldigungsversuche und weiter Verwirrung stiftende Eigenschaften seitens des Täters, ihm mehr Beachtung zu schenken als dem Opfer.
Vorbeugende Maßnahmen, dass es nicht soweit kommt, muss vorher jedem zuteil werden und nur dahingehend ist ein befassen mit solchen Beispielen konstruktiv,
detailierteres Auseinandersetzen sollten wir den geschulten Kompetenzen überlassen, deren Beruf dies ist.

Gruß Meer
Gast Meer
 

Beitragvon miljas » 09.07.2008, 18:17

Hallo,

ich müßte sicher noch mehr sichten. Aber ich habe auch anderes Dringendes zu tun und
habe erst einmal aufgeschrieben, wie ich es jetzt, nach dem ausfürlicherem Lesen des Dokumentes "Schriftliche Urteilsgründe in der Strafsache gegen Wolfgang Daschner, Pressemitteilung des LG Frankfurt vom 15. Februar 2005" ( Link zum pdf-Dokument ) sehe.
Im Anhang habe ich eine Chronologie der Ereignisse des Kriminalfalles bis zur Folterandrohung auf der Grundlage des genannten Dokumentes zusammengestellt.


Die Diskussion um die Folterfrage in Deutschland läuft, wie hier im Forum zu lesen war, immer noch weiter und wird leider auch immer wieder angeregt durch die gerichtlichen Verfahrensanträge von Gäfgen und dessen Verteidiger. Wenn es Gäfgen darum gegangen wäre, die Unzulässigkeit von Folter und Folterandrohung allgemein, und in seinem Fall speziell, zur Geltung zu bringen, dann hätte
das Verfahren gegen Daschner und E. vor dem Landgericht F.a.M. ausreichend sein können.
Denn die beiden wurden ja dort auch schuldig gesprochen und verurteilt. In Gäfgens eigenem
Prozeß wurden vier Vernehmungen, drei polizeiliche Vermerke und eine Leseabschrift wegen
der Folterandrohung nicht zu Beweiszwecken zugelassen. Gäfgens Verurteilung basierte auf
seiner Aussage (also seinem umfassenden Geständnis) direkt vor Gericht. Ein Einklagen von
Schmerzensgeld jetzt wegen der Folterdrohung - das halte ich für genauso unpassend, wie die Klage vor dem europäischen Gerichtshof, die ja nun auch abschlägig beschieden wurde, weil er nicht gefoltert wurde und einen fairen Prozeß bekommen hat. Ich kann nicht sagen,
welchem Zweck dies nun alles genau dienen soll und dient (also aus Sicht von Gäfgen und
dessen Anwalt). Jedoch, als Positives wurde durch das Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof zum Beispiel nun auch in einem Gerichtsbeschluß auf dieser Ebene deutlich, daß
das Verfahren gegen Gäfgen vor Gericht einwandfrei war.

eine Bemerkung allgemeiner Art zu dem Fall, nicht direkt zur Folterproblematik:
Außer diesen juristischen Aktivitäten hat Gäfgen ein Buch geschrieben und versuchte eine
Stiftung für Kinder, die Opfer von Verbrechen wurden, zu gründen. Nach Widerständen der
Öffentlichkeit und der Behörden wurden dann wohl der Anwalt oder ein befreundeter
Politiker als Stellvertreter-Repräsentanten für die Stiftungsgründung eingesetzt. Ich
möchte und kann mich in diesen Fall und in die beteiligten Personen nicht so weit vertiefen, daß ich das fundiert bewerten kann. Denn die Sache sehe ich als Bürger eines Rechtsstaates in der Grundlage allgemein so, daß eine Bestrafung von Tätern sinnvoll ist,
daß aber das Maß der Bestrafung und vor allem die Wandlungsmöglichkeit des Täters während
der Haft auch zur Geltung kommen müssen. Wenn jemand wie Gäfgen 15 Jahre oder ein halbes
Leben im Gefängnis verbringen muß, dann ist das nicht wenig. Das ist sicher auch schon
eine ausreichend lange Zeitspanne, um dies als Strafe zu erleben und auch dafür, um in dieser Zeit eine neue Sichtweise auf das Geschehene, auf die Ursachen und die Beweggründe und auf das eigene Handeln entwickeln zu können. Deshalb sollte diese Option des vorzeitigen Freikommens immer vorliegen. Ich glaube auch in diesem Falle liegt sie vor, aber natürlich nach der Feststellung der besonderen Schwere der Straftat ist sie nur sehr vage - es gibt wohl die Begnadigungsmöglichkeit.
Wie gesagt, ich verstehe, dies alles noch nicht, also Gäfgen und seinen Anwalt, und was
die genau wollen und warum sie sich so verhalten. Die Feststellung der besonderen
Schwere der Straftat vom Tisch zu bekommen - das ist nicht mehr möglich. Denn es war eine
besonders schwere Straftat. Und ich denke, dieses An-der-Nase-Herumführen eines
beträchtlichen Polizeiapparates, der in erster Linie in lebensrettender Aufgabe zum
Einsatz kam, und die Bezichtigung Unschuldiger - das hat die Schwere der Schuld noch
weiter vergrößert, auch vor dem Hintergrund Gäfgens Ausbildung als Jurist. Wenn sich
Gäfgen und sein jetziger Anwalt vorstellen, daß sie den Fehler von Daschner ausnutzen können, um ein verkürztes Strafmaß zu erreichen, wird sich das kontraproduktiv auf die
Begnadigungsmöglichkeit auswirken. Denn, wie gesagt, das Verbrechen wurde ja begangen -
das Fehlverhalten von Daschner hatte darauf keinen Einfluß. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge.

Weiter zur Folterproblamtik:
Man sagt abschätzig: "Hinterher ist man immer schlauer." Man sollte diese Tatsache einmal
ganz unvereingenommen begrüßenswert sehen. Natürlich ist man hinterher schlauer und es ist
gut so, daß man für die Zukunft schlauer werden kann. Bei all der Diskussion kann man sich
doch Folgendes fragen: War die Folterandrohung (bzw. wäre eine Folter) im Fall Gäfgen
erfolgreich (gewesen), um eine Notlage/einen Notstand zu beheben bzw. eine Notwehr zu
bewerkstelligen? Es ging in der Frage der Notwehr und des Notstands darum, wie Daschner
und E. sagten, das Leben des entführten Kindes zu schützen und zu retten. Die - zum
damaligen Zeitpunkt nun leider noch nicht bekannte - Tatsache war aber, daß das Kind
bereits zum Zeitpunkt der Alarmierung der Polizei nach dem Auffinden des Erpresserbriefes
tot war. Es wurde unmittelbar nach der Entführung in Gäfgens Wohnung getötet. Weder eine
Folterandrohung, noch eine Folter, konnten also diese Notlage noch beheben.
Und damit zeigt doch gerade dieser Fall, daß Folter in derartigen Notlagen/Notständen/als
Notwehr, unabhängig von allen anderen moralisch und geschichtlich begründeten Einwänden,
kein erfolgreiches Mittel sein muß, und wahrscheinlich auch oft nicht sein wird. Auch wenn
es nur ein einzelner Fall hier ist, der nicht für alle stehen kann, aber der Widerspruch
besteht ja hier gerade darin, daß die allgemeine Diskussionswürdigkeit dieser Frage an
diesem Fall herbeigeredet wurde, weil es leider zu dem Rechtsverstoß von Daschner gekommen
ist, und wiederum gerade dieser Fall zeigt, wie sinnlos im Sinne des verfolgten Ziels der
Notstandsbekämpfung und des erfolgreichen Notwehreinsatzes, die Folterandrohung und Folter
sein können.

Das schwere Verbrechen - so wie es abgelaufen ist und wie es dazu kommen konnte - das ist
hier das Problem, nicht die der Polizei zur Verfügung stehenden Ermittlungsmethoden.

Denn auch das zweite Argument, daß die Folterandrohung und die Folter ja auch allgemein
nur als letztes Ermittlungsmittel eingesetzt werden sollten, wenn alle anderen erschöpft
sind, trifft auf diesen Fall nicht zu. Man war noch nicht am Ende angekommen - es gab
konkrete Planungen - einen Stufenplan - daß man Gäfgen Personen gegenüberstellen wollte,
die ihn in seinem Aussageverhalten hätten beeinflussen können. Es fand eine
Gegenüberstellung mit seiner Mutter statt. Die führte nicht zum Erfolg. Zu weiteren
Gegenüberstellungen mit den Geschwistern des entführten Jungen und danach möglicherweise
auch mit dessen Eltern, kam es nicht. Diese hätten aber erfolgreich sein können, weil man
sich kannte und gerade Gäfgen auch aus Gründen der Bewunderung der von Metzlers bei der
Familie Anerkennung suchte. Sicher lief die Zeit immer weiter, und die Wahrscheinlichkeit
den entführten Jungen noch lebend auffinden zu können sank, statistisch gesehen. Die
genannten Gegenüberstellungen hätten jedoch nicht eines allzu großen weiteren
Zeitaufwandes bedurft. Vom Zeitpunkt der Entführung bis zur Feststellung und
Identifikation Gäfgens bei der Abholung des Lösegeldes waren etwa 50 Stunden vergangen.
Etwa 15 Stunden observierte die Polizei dann Gäfgen bis zur Festnahme. Die Verhöre
inklusive einer Nachtruhe von 7 Stunden dauerten bis zur Information Gäfgens über den
Aufenthaltsort der Leiche insgesamt etwa 16 Stunden. Ich habe keine absoluten Vergleiche
zu anderen Entführungsfällen, aber ich denke, das liegt alles im Bereich des zeitlich
üblichen bei derartigen Verbrechen. Daß Erpressungen und Entführungen für die Täter auch
gefährlich sind, wissen die ja auch und versuchen aus diesen Gründen, nichts zu
überstürzen und irgendwelche "sichere" Kontaktwege und Lösegeldübergaben zu organisieren.
Den Zeitdruck bei der Polizei kann man schon in Rechnung stellen, aber eine professionelle
Abgeklärtheit, daß man sich möglichst nicht unter Zeitdruck bringen läßt, sondern zügig
arbeit - das muß man von der Polizei und ihren Führungspersonen erwarten können.

Auch stand zum Zeitpunkt der Folterandrohung noch nicht eindeutig fest, daß G. ein
Einzeltäter war (und daß er somit die gesuchten Informationen besaß). Es liefen noch die
Verhöre gegen die Brüder M., auch die Suche am Langener Waldsee war noch nicht
abgeschlossen. Daß G. gelogen hat, war eine Vermutung des Polizeipsychologen, die Daschner
übernahm.

Neben der Frage, daß in der Vernehmung vom noch lebenden Kind ausgegangen wurde und eine
Strafminderung für die Rettung des Kindes in Aussicht gestellt wurde, stand aber auch die
Frage, von den anderen Möglichkeiten auszugehen. Und auch für diese Alternativen hätte man
eine Strafminderung oder einen Vorteil bei kooperativer Mitarbeit bei der
Verbrechensaufklärung anbieten müssen (in der Urteilsbegründung gegen Daschner wird auch
erwähnt, daß bei diesen Delikten leider meistens die Entführungsopfer sofort getötet
werden). Konnte man das nicht, oder wollte man das nicht, oder hat man es getan? (Von
Seiten der Polizei hört man immer wieder die Floskel: "Wir ermitteln in alle Richtungen."
- dann doch auch hier, auch inhaltlich.) Jeder festgenommene Verbrecher muß sich erst
einmal darauf einstellen, daß sein (mehr oder weniger lange) geplantes Verbrechen
gescheitert ist. Natürlich - die Profiverbrecher und die vermeintlichen Profiverbrecher
versuchen dann den Weg des "Was man mir nicht beweisen kann..." zu beschreiten. Aber dann
steigen natürlich die Kosten vor Gericht in dem Falle, wenn diese Strategie scheitert. Und
das ist meistens der Fall. Von einer erhofften Blödheit der Polizei auszugehen, ist das
Dümmste, was man im Sinne einer Strafreduktion machen kann. Das hätte man vielleicht
Gäfgen, der sicher ein besonders uneinsichtigen Weg gehen wollte, in einem Crashkurs
vermitteln sollen und können. Vielleicht hat es der Ermittlungsbeamte auch getan - ich weiß es nicht.

Und abschließend noch ein letztes Argument gegen Folter und Folterandrohung am Beispiel
dieses Falles - nach der Mitteilung über das Versteck von Jakob Metzler log G. weiter
bezüglich des Zustandes des Kindes, und bezüglich möglicher Tatbeteiligter. Sogar noch bei
der Rückfahrt vom Fundort der Leiche (!!!!!) benannte er einen weiteren Unschuldigen als
Drahtzieher und Hauptverantwortlichen des Verbrechens (und auch der wurde dann noch
festgenommen, aber schnell wieder frei gelassen, weil die Lüge G.s schnell aufgeklärt
werden konnte.


**********************************************************************************
Chronologie:

27. September 2002 (Freitag):
Der Jura-Student Magnus Gäfgen entführt den Bankierssohn Jakob von Metzler auf dem Schulweg (Mitnahme mit dem Auto, er hatte den Jungen unter einem Vorwand in seine Wohnung gelockt). Anschließend erstickte er den Jungen. Im Erpresserbrief, schon eine Woche vorher geschrieben, wird die Übergabe des Lösegeldes in der Nacht vom Sonntag zum Montag ein Uhr an der Haltestelle der Linie 14 "Oberschweinstiege" gefordert. Es wurde im Brief versichert, daß der Junge am Morgen nach der Geldübergabe wohlauf nach Hause zurückkehrt. Gäfgen brachte den Jungen um, weil er der Familie bekannt ist und er befürchten mußte, daß er ihn im Überlebensfall als Täter benennen würde. Mit dem toten Jungen im Kofferraum seines Autos fuhr G. zum Haus der Familie M. und warf dort den Brief in den Bereich zur Einfahrt zu dem Wohngrundstück.
Dann fuhr er weiter nach Birstein und versenkte die Leiche in einer Plastikhülle unter einem Holzsteg im See.

12.40 Uhr:
Der Hausmeister der Familie M. fand das Erpresserschreiben. Die Polizei wurde von dem Entführungsfall informiert und vermutete sofort einen ernsten Hintergrund, bei dem das Leben des Kindes auf dem Spiel stand.
Polizeipräsident W.-B. war im Urlaub (wurde der informiert?). D. ordnete die Alarmierung der Einsatzkräfte und die Einrichtung der für Entführungsfälle vorbereiteten Besonderen Aufbauorganisation (BAO "Louisa") an. E. wurde Polizeiführer und ihm unterstellt ein Führungsstab, Spezialeinheiten und Spezialkräfte sowie eine Beratergruppe.

15.20 Uhr:
Information der Staatsanwaltschaft. Vertreten durch Staatsanwalt K.
E. leitete als amtierender Leiter K12 den Unterabschnitt "Allgemeine Ermittlungen".
Es erfolgte Dienst in zwei Schichten. E.: Tagschicht, Pr.: Nachtschicht.
(Bei dem Streß - nur zwei Verantwortliche und nur zwei Schichten ?????)

Mit dem Polizeipsychologen S. erfolgten Erkundungen im Umfeld der Familie M. und die Bewertung des Erpresserschreibens. Der Brief gab berechtigten Anlaß zu der Hoffnung, daß Jakob M. noch lebte, da dessen Freilassung nach Zahlung des Lösegeldes versprochen worden war.

Nachdem laufende Ermittlungen keinen Anhaltspunkt für einen Täterkreis ergaben, bereitete man die Geldübergabe vor mit der Maßgabe den Geldabholer unbemerkt zu überwachen, um auf diese Weise Kenntnisse über den oder die Täter und den Aufenthaltsort des Kindes zu erhalten.

28.9.02 (Sonnabend):
siehe Vortag

30.9.02 (Sonntag):
siehe Vortag

1.10.02 (Montag), 1.10 Uhr:
G. wurde als Abholer des Geldes beobachtet und dann identifiziert und stand seitdem unter nahezu lückenloser Überwachung.
G. nahm bei mehrereren Geldinstituten Bareinzahlungen vor.
Er schloß nach einer Probefahrt einen Kaufvertrag über einen PKW Mercedes in Aschaffenburg ab.
Er buchte mit seiner Freundin P. für den 7.10.02 eine Reise nach Fuerteventura.
Er suchte mit ihr verschiedene Ladenlokale in Frankfurt auf der Zeil auf.

Da keine Aktivitäten bezüglich des Kindes beobachtet wurden, konnte dieses Verhalten ein Zeichen dafür sein, daß der Junge möglicherweise schon tot war. Man wußte, daß G. und Jakob von Metzler sich kannten. Es konnte aber sein, daß andere unabhängig agierende Täter das Kind in ihrer Gewalt hatten. Oder es konnte sein, daß sich das Kind bei Alleintäterschaft G.s hilflos in einem Versteck befindet.

16.20 Uhr:
Festnahme von G., da 3 Tage seit der Entführung vergangen waren und G.s Verhalten keinen Aufschluß lieferte.

Erste Überhörung durch Pe.

18.20 Uhr:
Vernehmung durch M., ein in Vernehmungsfragen erfahrener Beamter, der ein Vertrauensverhältnis schaffen wollte. M. versuchte G. zu veranlassen, Angaben zum Kind zu machen, ob es noch lebt und wo es sich befindet. Parallel dazu liefen intensive Ermittlungen im Freundes- und Familienkreis von G., die Durchsuchung von G.s Wohnung wurde angeordnet und die Freundin P. festgenommen.

G. war nicht bereit, auf den Schuldvorwurf einzugehen und sorgte sich um die Freundin P. M. beruhigte ihn, daß der Freundin nicht passiere, wenn sie mit der Sache nichts zu tun habe. Daraufhin machte G. Angaben:
Er hätte mit der Entführung nichts zu tun - ein Unbekannter hätte ihm 20.000 Euro angeboten, wenn er das Lösegeld abhole. M. stellte fest, daß das völlig unglaubhaft sei.
M. stellte fest, daß er hauptsächlich um das Leben des Kindes besorgt sei und daß G. eine erhebliche Strafmilderung erhoffen könne, wenn er dazu beitrage, den Jungen zu retten. G. machte keine Angaben zum Verbleib des Kindes.

Man fand zu dieser Zeit in G.s Wohnung einen Geldbetrag (500.000 Euro), der als das Lösegeld identifiziert wurde.
Außerdem fand man einen Zettel, auf dem in Checklisten-Art stand:

"Weg abfahren
Ortstermin Steg
Rucksäcke
Brieftest
Brief O...
Briefsteinwurf testen
Beil"

Das deutete daraufhin, daß G. in die Entführung einbezogen und möglicherweise Alleintäter war.
Auf den Vorwurf des Geldfundes erklärte G. die Abholung des Lösegeldes und den Transport des Geldes in seine Wohnung, er erklärte den Besuch der Geldinstitute, den Besuch des Autohauses und die Buchung der Reise. Zu dem Kind gab er auseichende Antworten, er verhielt sich abweisend und distanziert. Er überlegte. Er bat um Konsultierung eines Anwaltes, worauf der Anwaltsnotdienst verständigt wurde.
M. setzte die Befragung fort und schrieb 3 Fragen auf:

"Befindet sich Jakob alleine irgendwo?"
"Oder ist er unter Bewachung/Aufsicht?"
"Oder befindet er sich nicht mehr am Leben?"

G. lehnte eine Antwort ab, daraufhin schlug M. vor sich umzudrehen, so daß G. unbeobachtet ankreuzen kann. G. hatte angekreuzt, daß sich Jakob unter Bewachung/Aufsicht befindet. Polizeipsychologe S., der zeitweilig bei der Vernehmung anwesend war, meldete der Polizeiführung, daß G. bewußt keine Angaben mache, sondern sich zurückhalte, taktiere und Zeit zu gewinnen suche.

20.00 Uhr:
D. wurde telefonisch informiert, daß gegen 10 Personen und 11 Wohnobjekte aus dem privaten Umfeld von G. Ermittlungsmaßnahmen laufen, daß in G.s Wohnung 500.000 Euro gefunden wurden und daß G. erklärte, er habe nur das Geld abholen sollen. D. erklärte gegenüber E. die Anwendung unmittelbaren Zwanges gegenüber G. sei freigegeben. Dies verstand E. nicht als Anordnung, sondern als Anregung.

21.30 Uhr:
E. beruft eine Versammlung mit L.und R als Abteilungdirektoren und S. ein. Thema war die Bewertung der Aussage G.s und wie man ihn zu den zutreffenden Angaben veranlassen konnte. Nach den Funden des Geldes und des Zettels war G. als Alleintäter oder Mittäter der Entführung und Erpressung dringend verdächtig.
Die Frage der Anwendung unmittelbaren Zwanges und der damit verbunden Erfolgsaussichten wurden von E. angesprochen und S. aufgefordert dazu Stellung zu nehmen. S. schätzte ein, daß dies nicht zum Erfolg führen würde, weil G. als ausgebildeter Jurist ausweichend antworten würde. Stattdessen sollten G.s Eigenschaften der Selbstverliebheit, der Arroganz und der Geldgier genutzt werden. S. sollte prüfen, ob die Geschwister von Jakob Metzler freiwillig bereit und psychisch in der Lage sind, eine Konfrontation mit G. durchzustehen und sie darauf vorzubereiten. S. schlug vor, weitere Personen ausfindig zu machen, die Einfluß auf G. haben und ihm gegenübergestellt werden könnten. Ob auch die Freundin P. in Betracht kam, konnte in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden.

Es wurde ohne direkte Anweisung von D. ein Stufenplan erarbeitet, daß G. erst mit seiner Mutter, dann mit den Metzler-Geschwistern und dann gegebenenfalls mit den Eltern von Jakob Metzler konfrontiert werden sollte. Weiterhin sollte eine intensive Vernehmung mit M. laufen. Die von D. angeregte Anwendung unmittelbaren Zwanges wurden einhellig verworfen.

22.30 Uhr:
E. teilte D. das Beratungsergebnis mit und erläuterte den Stufenplan. D. war damit einverstanden.

Staatsanwalt K. der sich noch im Polizeipräsidium befand, wurde nicht zu der Frage des unmittelbaren Zwanges informiert - S. sprach mit ihm über die Möglichkeit der Konfrontation mit den Geschwistern M.

genauer Zeitpunkt ?:
G. sprach mit dem Rechtsanwalt Z.

genauer Zeitpunkt ?:
G. benannte gegenüber M. als Verwahrort des Kindes eine Hütte am Langener Waldsee. Den genauen Standort und die Umgebung beschrieb er nur vage, so daß auch unter Zuhilfenahme einer Karte der Standort nicht genau ausgemacht werden konnte. Bei der Beschreibung der Hütte benutzte er Merkmale der Hütte am Birsteiner See - des tatsächlichen Ortes, an dem er die Leiche versenkt hatte.
Da nur die Hälfte des Lösegeldes gefunden worden war, er die Alternative Bewachung/Aufsicht angekreuzt und die Beschreibung der Hütte nicht unrealistisch erschien, wurde vermutet, daß Mittäter existieren. M. fragte deshalb nach den Mittätern und wo diese sich mit dem Jungen befinden.

2.10.02 (Dienstag), gegen 1.00 Uhr:
Nach langer Befragung gab G. an, daß die Gebrüder R. sich des Kindes bemächtigt hätten und es in der Hütte am Langener Waldsee bewachten. G: "Hoffentlich finden Sie dort jetzt kein totes Kind."

G. war nicht mehr bereit, weitere Angaben zu machen. M. verblieb mit G. daß er die Vernehmung um 8.00 Uhr fortsetzen werde und ließ ihn in die Zelle bringen.
M. war skeptisch, konnte aber nicht ausschließen, daß die Angaben zutreffen. Er hoffte, daß er am Morgen aufgrund des aufgebauten Vertrauensverhältnisses und der Verarbeitung in der Nacht bereitwilliger und wahrheitsgemäß aussagen werde.

Infolge der Aussagen von Gäfgen ergab sich eine neue Ermittlungssituation. Zwar äußerte der völlig übermüdete Polizeipsychologe S. spontan die Vermutung, daß es sich um ein erneutes Lügengebäude handelt, aber nach Beratung durch den Leiter "Ermittlung" L., der laufend über die Verhörergebnisse durch Pr. informiert wurde, gab E. Anweisung das Gelände um den Langener Waldsee abzusuchen.
Mehrere Hundertschaften (etwa 1000 Beamte mit 60 Suchhunden) wurden zur Suche an den See verlegt.
Zwei Spezialeinheiten begannen Vorbereitungen für Aufklärungs- und Zugriffsmaßnahmen bezüglich der Wohnobjekte der Brüder R.
Es wurden Polizeinheiten zur Abschirmung der Villa von Familie Metzler abgestellt, weil nach der erfolgten Information der Öffentlichkeit - aus Gründen der Hinweissuche - diese von 20 TV-Übertragungswagen belagert und in taghelles Licht getaucht war.

In Anbetracht der geänderten Ermittlungslage wurde die geplante Konfrontation mit den Geschwistern M. zurückgestellt.

Die Absuchmaßnahmen an den Seen liefen bis zum Morgen.

6.02 Uhr:
M.R. wurde in seiner Wohnung festgenommen.
6.26 Uhr:
F.R. wurde in seiner Wohnung festgenommen.

6.30 Uhr:
Die Vernehmung von M.R. begann.
D. erschien nach wenigen Stunden Schlaf im Präsidium. E. informiert über den aktuellen Sach- und Kenntnisstand.

6.35 Uhr:
Gespräch von D. mit E. und Mü. in einem Nebenraum der Befehlsstelle.
Ein Lügendetektor sei ungeeignet. Spritzen von Wahrheitsserum wäre denkbar, wenn vorhanden. Ansonsten erfolgte die Anordnung, G. nach vorheriger Androhung von Folter, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen, ohne Verletzungen erneut zu befragen. Begründung: Vorliegen eines übergesetzlichen Notstandes. Mü. war "perplex".

6.50 Uhr:
Anruf von Mü. bei W., dem Leiter des Sondereinsatzkommandos. Die Anforderung eines Beamten zum Foltern erfolgte. W. erörterte dies mit seinen Einsatzleitern und stellte fest, daß es hierfür keine rechtliche Grundlage gebe.

6.55 Uhr:
Mü. erfährt von L., daß M.R. eine Beteiligung an der Tat bestreite und daß er sich die Beschuldigung G.s als Rache aufgrund einer früheren Anzeige wegen sexueller Übergriffe erkläre. Mü. ordnet an, daß Polizeiärzte ins Krankenhaus gerufen werden sollen.

gegen 7.00 Uhr: F.R. wird verhört.

7.00 Uhr:
Einberufung einer Besprechung von Mü. mit E.,L.,W.,R.,Mo. und E.
Im Ergebnis wurde festgestellt, daß die besprochenen Ermittlungsmaßnahmen (Stufenplan) weitergeführt werden sollen. D.s Ansinnen ließ man beiseite und betrachte sie nur als allerletzte mögliche Maßnahme. R. bekannte sich aus Gewissensgründen zur Anordnung von D.

7.40 Uhr:
R. beruft Folgebesprechung ein. Anwesend sind Mü., W, E. O. und E. Ergebnis: das Stufenkonzept ist möglichst schnell durchführen.

8.00 Uhr:
D. bat R., W. und Mü. in sein Zimmer. Er war erregt und fragte laut, warum seine angeordnete Maßnahme noch nicht umgesetzt sei. Mü. hielt ihm entgegen, daß ein Stufenkonzept entwickelt worden sei. D. erwiderte, ein Stufenkonzept sei nicht vereinbart gewesen. Es wurde ihm alles noch einmal erläutert und die rechtlichen Vorbehalte zur Sprache gebracht. Als Beispiele für Schmerzen ohne Verletzungen nannte D. das Überdrehen des Daumens und Handgelenks. W. äußerte Bedenken, daß man das nicht tun dürfe und daß sich niemand aus seiner Abteilung dafür finden würde. Als D. nicht locker ließ, meinte W. es komme dafür nur ein Beamter in Betracht, der sich aber im Urlaub befinde. D. verlangte, daß dieser Mann mit einem Hubschrauber geholt werden solle und er bot sich an, mit dem genannten Beamten direkte Gespräche zu führen.

Mü. ging danach zur Befehlsstelle und telefonierte mit Mo., seiner Ablösung. Es wurde vereinbart, D.s Maßnahme derzeit nicht durchzuführen. Alles weitere wollten sie sich nur in gemeinsamer Absprache vorbehalten.

ebenfalls 8.00 Uhr:
G. wird aus seiner Zelle geholt und in Anwesenheit von Pr. und Pe. seiner Mutter gegenübergestellt. Auf die vorherigen Fragen von Pr. und Pe. nach dem Verbleib des Kindes erhielten sie ausweichende Antworten. G. erklärte gegenüber seiner Mutter wahrheitswidrig, er stehe selbst unter Druck und werde erpresst. Angaben zum Verbleib des Kindes machte er auch ihr gegenüber nicht.

8.20 Uhr:
Die Sondereinheit vom Langener Waldsee meldete den Fund eines Kinderschlafsackes mit rötlichen Anhaftungen in einer Hütte.

8.30 Uhr:
E. wurde von D. in sein Büro bestellt. D. wies E. als Vorgesetzter an, G. erneut zu befragen, an sein Gewissen zu appelieren und auf die akute Lebensgefahr hinzuweisen. Wenn G. wieder keine Auskunft erteilt, solle ihm mit der Anwendung unmittelbaren Zwanges (Folter- hier im Speziellen unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen, ohne Verursachung von Verletzungen) gedroht werden.

8.40 Uhr:
Polizeiarzt Dr. C. wurde von Mü. über die Anordnung von D. und deren Hintergrund informiert und gefragt, ob er bereit sei, diese ärztlich zu begleiten. Er bejahte.

ebenfalls 8.40 Uhr:
E. begibt sich in Pr.s Büro, in dem G. nach Beendigung der Konfrontation mit der Mutter saß. E. sagte zu Pr., er habe einen Auftrag von D. und müsse mit G. sprechen. Pr. verließ das Zimmer.
Im Gespräch sagte E. G. auf den Kopf zu, daß an seiner maßgeblichen Tatbeteiligung keine vernünftigen Zweifel bestehe.
Weiter folgte dann die mit D. abgesprochene Folter-Androhung. Um G. zu beeindrucken, sagte E., daß ein besonderer Beamter mit dem Hubschrauber unterwegs sei, der ihm Schmerzen zufügen könne, die er nicht vergessen werde.
G. machte dann nach wenigen Minuten die Aussage, er habe Jakob M. unter einem Steg an einem See bei Birstein versteckt. Er äußerte diffus, es könne sein, daß der Junge tot sei.
Danach verlangte E. auf dem Flur lautstark eine Karte von Birstein und K., der sich in der Gegend gut auskannte, begab sich mit Sk. zu G. in das Vernehmungszimmer, um sich nach örtlichen Details zu erkundigen. Auf die Frage, ob Jakob noch am Leben sei, gab G. ausweichende Antworten. Er erklärte, er (G.) sei als erster dort weggegangen und er wisse nicht, ob die anderen noch da seien. Auf Nachfrage, ob der Ort jetzt richtig angegeben sei, erwiderte G. "Das stimmt jetzt." Er zeigte auf der Karte auf einen Feldweg und nannte weitere Einzelheiten, die Ortskenntnis auswiesen.

Danach brachen die Einsatzkräfte beschleunigt nach Birstein auf.

Von M., der mittlerweile eingetroffen war, nach Birstein befragt, antwortet G. er wolle nur dorthin fahren, wenn M. ihn begleite. M. fuhr deshalb mit nach Birstein und begleitete ihn auch auf der Rückfahrt. Auf der Fahrt nach Mittätern befragt, gab G. wahrheitswidrig an, B.S. sei Urheber und Drahtzieher der Straftat gewesen. B.S. wurde darauf hin festgenommen. Die nachfolgenden Ermittlungen ergaben schnell, daß die Anschuldigung nicht stimmte und G. räumte auch ein, gelogen zu haben.

8.50 Uhr:
Mü. informierte D. telefonisch über den Fund des Kinderschlafsacks und die Bereitschaft des Polizeiarztes.

************************************************************************************

Hier kann man einen Filmbericht über das Bankkhaus B. Metzler seel. Sohn & Co. Kommanditgesellschaft auf Aktien finden (unter dem Text in den blau unterlegten Feldern), in dem die Eltern des ermordeten Jakob zu sehen sind. Hätte Gäfgen eine aufrichtige Freundschaft zu dieser Familie gesucht, hätte er sicher auch menschlich sehr davon profitieren können.
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Beitragvon Gast Meer » 11.07.2008, 16:16

Hallo Miljas,

mei, was machst du dir viele Gedanken um diesen Fall und wie mir scheint, beschäftigt dich diese Problematik doch sehr.
Auch alle Achtung vor deiner Akribie, das alles nachvollziehen zu wollen.

Ein paar Bemerkungen noch von mir, mehr habe ich dann aber nicht vor mich damit zu befassen.
Du schreibst:

Das schwere Verbrechen - so wie es abgelaufen ist und wie es dazu kommen konnte - das ist hier das Problem, nicht die der Polizei zur Verfügung stehenden Ermittlungsmethoden.


Es ist hier beides wichtig und toggle wollte ja mit seinem Ausgangsposting auf das Dilemma aufmerksam machen, wie seitens der Vernehmer vorzugehen ist und was noch erlaubt, bzw. straffrei ist.
Zwischen einer Folter und einer Folterandrohung besteht immer noch ein kleiner Unterschied, etwa dem wie in einem anderen Beispiel: "Ich möchte ja gerne dies und das tun oder haben, unternehme aber nichts weiter und belasse es bei dem Gedanken oder Wort." Das heißt, die Tat wird nicht ausgeführt, der Gedanke realisiert sich nicht.
So ähnlich sehe ich das mit den Folterandrohungen, also als Aussagen, die wahr werden könnten.

War die Folterandrohung (bzw. wäre eine Folter) im Fall Gäfgen erfolgreich (gewesen), um eine Notlage/einen Notstand zu beheben bzw. eine Notwehr zu bewerkstelligen?

In diesem Fall war die Androhung erfolgreich, denn G. gestand dann ja.

Dass es je soweit kommen muss, das stelle ich in Frage und auch du meinst ja, dass durch ein anderes Vorgehen ebenso evtl. ein Geständnis herausgekommen wäre.

Denn die Sache sehe ich als Bürger eines Rechtsstaates in der Grundlage allgemein so, daß eine Bestrafung von Tätern sinnvoll ist, daß aber das Maß der Bestrafung und vor allem die Wandlungsmöglichkeit des Täters während der Haft auch zur Geltung kommen müssen.


Jaaaaa, das sehe ich auch so, vor allem unterstrichenes.
Gäfgens Wandlungsversuche, die er in Form einer Stiftung für Kinder, die Opfer von Verbrechen wurden vorbrachte, waren m.E. zu früh vorgebracht und sie sind ja grotesk im Anbetracht seiner eigenen Untat und das hat ihm dort wahrscheinlich auch niemand abgekauft, dass ein so schneller Gesinnungswandel stattgefunden hat.
Weiterhin finde ich es einfach nur noch abartig und total kaltblütig, dass G. mit dem bereits toten Kind im Kofferraum vor dem Haus der Eltern vorbeifährt und diesen Erpresserbrief auf das Grundstück wirft.

Gäfgen brachte den Jungen um, weil er der Familie bekannt ist und er befürchten mußte, daß er ihn im Überlebensfall als Täter benennen würde.

Hierin zeigt sich zum ersten mal der Ansatz im Umkehrfall, nämlich der, dass im Überlebensfall G. von dem Jungen beschuldigt worden wäre, G. als das Opfer geworden wäre und genau das kann er nicht zulassen.
Für mich kann G. nicht mit Macht und Ohnmacht umgehen, hat Macht missbraucht und darf sich jetzt bitte nicht beschweren, wenn die Staatsmacht die Oberhand behält.

So mein Verständnis dazu und vielleicht konnte ich dir ein bisschen weiter helfen.

Grüße Meer
Gast Meer
 

Beitragvon miljas » 11.07.2008, 19:54

Hallo Meer,

Danke für die Mitteilung Deiner Gedanken.

Ja, mich beschäftigt diese Problematik.
Einfach auch deshalb, weil ich mir nicht sicher bin, wie es weitergehen wird ganz allgemein. Geht es in Richtung einer Lösung von Problemen und damit einer Abnahme von Gewalt, oder umgekehrt.
Daß bei der Polizei das Gewaltmonopol liegt, ist einerseits beruhigend, weil sie uns ja schützen soll. Andererseits sind nicht alle Polizisten, die zu Gewalt fähig sind, so vertrauenerweckend, daß man dies völlig ohne Besorgnis betrachten kann. Da gibt es für mich einige Beispiele. Ich selbst bin mit der Polizei noch nie in direkte Konfrontation gekommen. Aber ich habe vom Rande die Geschehnisse bei der Räumung einer besetzten Straße in Ostberlin im Herbst 1990, wenige Wochen nach der Wiedervereinigung, beobachtet. Das waren fast bürgerkriegsähnliche Zustände und in Berlin ist danach auch die Regierung von SPD und Grünen auseinandergebrochen. Die Beamten aus verschiedenen Bundesländern machten auf mich den Eindruck, daß sie gut gefüttert, muskulös, durchtrainiert und gut ausgerüstet waren, mit Schilden, Helmen, Kleidung, Schlagstöcken, Wasserwerfern. Von Menschenfreundlichkeit konnte ich in deren Gesichtern auch kaum etwas erkennen - eher war da eine Art Gleichgültigkeit, teils eine Art Vorfreude, zu sehen.

In einem Brandenburger Gefängnis schlugen maskierte Strafvollzugsbeamte einen Gefangenen zusammen, der als aufsässig bekannt war. Das geschah, nachdem der Gefangene in den frühen Nachtstunden um Hilfe rief, weil er einen Herzinfarkt erlitten hatte (ich weiß nicht, ob das noch Leute waren, die schon zu DDR-Zeiten dort Dienst taten).

2004 habe ich als Teilnehmer einer Demonstration in Berlin gesehen, wie die Polizei einen an die Spitze des Demonstrationszuges gesetzten Lautsprecherwagen stürmte, von dem keinerlei Gefahr ausging - der fuhr Schritttempo bzw. stand immer wieder. Der Fahrer - das habe ich nicht selbst gesehen, soll von der Polizei brutal vom Fahrersitz gerissen worden sein. Plötzlich schoß das Fahrzeug, mit einem Polizisten dann am Steuer, kurz nach vorn und dann nach links weg in die Einmündungsstraße. Musiker, die sich hinten auf dem Klein-Transporter befanden, wurden gefährdet. Und Demonstranten und Ordner der Demonstration, die sich einfach schützend der Polizei in den Weg stellten, wurden brutal beiseite geschubst und zu Boden geworfen.

Nun kann man fragen, was hat das mit diesem Fall zu tun? Ganz einfach - die Verantwortlichen für alle diese Angelegenheiten, sind immer die Polizeipräsidenten und Innenminister (abgesehen vom Gefängnis, dort ist wohl der Justizminister - oder -ministerin zuständig).

Und ich bin der Meinung, daß Folter und Folterandrohung hier in Deutschland überhaupt nicht zur Diskussion steht und stehen darf. Es ist unerträglich, daß es dafür Befürworter und Diskussionvertreter gibt. Es ist schlimm genug und natürlich notwendig, daß die Polizei direkte Gefahren abwenden muß. Aber Folter und auch unverhältnissmäßige Gewaltanwendung gehören für immer verbannt.

Sicher muß man sich dann mit dem hier vorliegenden Fall konkret und umfassend beschäftigen - sich damit vertraut machen, wie es toggle mir empfahl. Wie soll man sich denn ein wirklich fundiertes Urteil bilden können, wenn man eigentlich un- oder achtel- oder viertel- oder nur halbinformiert ist. Wir kennen doch unsere Medien. Sie sind ja allgemein nicht unnützlich, aber konkret entspringt das Wasser immer an der Quelle. Deshalb bin ich ja schon einmal erfreut, daß hier im Internet diese Pressemitteilung über den Gerichtsbeschluß zu finden ist. An Gerichtsdokumente direkt zum Fall Gäfgen kommt man wahrscheinlich nicht so einfach heran. Aber wie gesagt - das kann mit diesen Informationen vom Daschner-Prozeß nur ein Anfang sein. Zum Beispiel interessiert mich, wie das mit der Information über die Folterandrohung dann genau war. Hier bei der Information zum Daschner-Prozeß war zu lesen, daß Daschner noch am 2.10.02 eine Aktennotiz anfertigte. Irgendwo habe ich gelesen, daß die Staatsanwaltschaft diese Notiz erst Monate später zu Geschicht bekam (und natürlich irgendwann auch Gäfgens Anwalt, der ja Akteneinsicht hatte).

Sicher besteht zwischen einer Folter und einer Folterandrohung noch ein Unterschied. Aber wer es androht, müßte auch bereit sein es zu tun, oder? Sonst wäre es doch im Endeffekt sinnlos. Jeder Verbrecher, der dann einigermaßen Bescheid wüßte, würde dann darüber lachen. Und wie gesagt - für mich besteht die Ablehnung von Folter als Ganzes komplett einschließlich auch der Ablehnung der Androhung, weil dies ein Schritt hin zur Folter wäre.

Nein Meer, die Notlage wurde doch nicht durch Gäfgens Geständnis beseitigt - das Kind war doch bereits seit Tagen tot. Es bestand tatsächlich überhaupt gar keine Notlage. Es ging nur noch darum, das Verbrechen aufzuklären.
Es bestand allerdings eine mögliche, eine vermutete Notlage, weil die Polizei es nicht wußte. Indem die Polizei Gäfgen befragte, versuchte sie festzustellen, ob die vermutete Notlage eine tatsächliche ist. Gäfgen machte Angaben, die das nahelegten (wegen seiner Lügen). Aber die Polizei muß ja bei jedem Sachverhalt, bei jedem vorgeblichen Sachverhalt, alle Angaben und Hinweise nachprüfen. Als Gäfgen dann nach der Folterandrohung Informationen gab, die die vermutete Notlage beendeten, stellte sich doch gleichzeitig heraus, daß es tatsächlich in diesem Sinne seit Beginn der Polizeiermittlungen keine Notlage gegeben hat - es ging doch "nur" darum, daß Verbrechen aufzuklären. Und deshalb hat die Folterandrohung also keine wirkliche Notlage beseitigt, sondern nur eine vermutete Notlage.

Sicher - dieser Mensch Gäfgen ist überhaupt nicht zu verstehen, wie er ein solch scheußliches Verbrechen sich ausdenken und es in die Tat umsetzen konnte, nur um ein paar Euro zu erpressen. Die er ohnehin wahrscheinlich in Null Komma Nichts ausgegeben und verpraßt hätte, wie sein bekannt gewordenes Verhalten unmittelbar nach der Tat vermuten läßt. Es ist von vorne bis hinten alles total niedrig. Und ich stimme Dir zu - ich kann es mir auch nicht vorstellen, daß sich eine solche Einstellung so schnell ändern kann.

Abschließend möchte ich noch auf eine Sache hinweisen, die mir klar geworden ist. Die ganze Diskussion ist ja nun auch in Zusammenhang mit Terrorismusbedrohungen geführt worden (Prof. Merkel sprach es auch an). Aus gutem Grunde habe ich deshalb auch gesagt, daß ích nicht gern das Ganze allgemein theoretisch erörtern möchte, sondern bei dem Fall Gäfgen bleibe. Aber mir drängt sich langsam der Verdacht auf, daß man in den Justiz-/Polizeikreisen einfach Angst hat oder hatte. Denn es ist ja klar - sich mit derartigen Verbrechern auseinanderzusetzen, die man nun als Terroristen bezeichnet, ist schwieriger. Denn sie sind intelligenter, motivierter, finanzkräftiger und "ausländischer", als die üblichen Verbrecher und ihr Ziel besteht eben in möglichst großer, wenn es ging unbegrenzter, Gewalt gegen Menschen und Sachen und es ist letztlich gegen die gesellschaftliche Funktionsfähigkeit insgesamt gerichtet. Das ist das Problem. Das ist ein Ausdruck für eine Verunsicherung. Folter wird das Problem nicht lösen. Das ist eine gefährliche Illusion (der die Amerikaner verfallen sind). Je mehr sich die Polizei und die Sicherheitsbehörden auf diese Gefahren mit speziellen Maßnahmen, außer Folter, einstellen, desto größer sind die Chancen, ihnen erfolgreich entgegen treten zu können.
Ich halte zwar auch nichts von Geheimdiensten, aber auch bei der Polizei können verdeckte Ermittler arbeiten, um bei Anfangsverdacht möglichst das gesamte Übel und alle Beteiligten, einschließlich der Hauptverantwortlichen und der Gefährlichsten, aufdecken zu können. Das macht man ja wohl auch bei der organisierten Kriminalität so. Und dieser Terrorismus ist eine besondere Form der organisierten Kriminalität.

Hier hat man wohl aufgepaßt:
"Anschlag auf WM vereitelt", Süddeutsche Zeitung, 28.3.2008

Und ausgehend von dieser Überlegung wird mir die Bezugnahme auf den Fall Gäfgen mit dieser Wischi-Waschi-Argumentation, mit der man ziemlich billigen Populismus anspricht, immer mehr suspekt.
Billiger Populismus deshalb, weil natürlich der Mord an einem Kind, ein anhaltend verlogener Mörder und ein überforderter stellvertretender Polizeipräsident geradezu ideal sind, die Emotionen der Bevölkerung anzusprechen und aufzugreifen.

Viele Grüße

miljas
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Beitragvon Gast Meer » 12.07.2008, 07:18

Hi miljas,

hmmmm, wie wird es weitergehen????
Ich denke es wird immer mindestens zwei Lager geben, die einen, die Gewalt völlig ablehnen und die anderen, die Gewalt skrupellos anwenden und diejenigen die daraus Lösungen suchen.
In dem Thema "Verbale oder körperliche Gewalt in einer Beziehung" von Sinar haben wir 2007 bei PL schon einmal zur Gewaltproblematik geschrieben, schau dir das vielleicht auch einmal an.

Noch mal kurz zu der Notlage/Notsituation, die ich jetzt nicht auf den Zustand des Jungen beziehe, sondern darauf in welcher Lage sich die Beamten befanden, die vermutlich keinen weiteren Ausweg mehr sahen und deswegen diese Androhungen aussprachen, als letzte Möglichkeit und als eigene Notwehr G. gegenüber, der sie ja weiter im Unklaren lies.
Möglicherweise und sehr wahrscheinlich standen die Beamten auch unter Erfolgszwang oder unter einem enormen Druck eine Lösung herbei zu zwingen und das ist
eben nicht förderlich im Sinne von Verhandlungen.

Ja sicher ist das nur noch ein winziger Schritt zu tatsächlicher Folter, aber da stehen ja nun dann irgendwann exakte Gesetze dem im Wege, die das eindeutig regeln und weiteres verhindern sollen, was wiederum keine Garantie dafür ist, dass sich jeder an solche Gesetze hält, vor allem, wenn persönliche Emotionen oder innere Konflikte und Komplexe nicht bereinigt und behoben sind.

Ich denke halt, dass über solche schwierige und unangenehme Themen dennoch weiterhin diskutiert werden muss (hier ist das muss tatsächlich notwendig), als eine Möglichkeit zu tief greifenden Veränderungen und um keine Tabuthemen entstehen zu lassen, die wiederum erneut Gewalt fördern könnten.

LG Meer
Gast Meer
 

m. und Meer

Beitragvon Coco » 12.07.2008, 09:57

Hallo, Ihr beiden,
jetzt will ich Euch doch ganz spontan wissen lassen, was mir im Kopf herumgeht:
Wenn ich hier Eure Gedanken verfolge, ist es für mich kein Wunder, dass Ihr seinerzeit "aneinander geraten" seid (Genaueres weiß ich Gott sei Dank nicht).
Vielleicht müsstet Ihr beide lernen, einmal los zu lassen.
Auf jeden Fall mag ich Euch beide (bis jetzt jedenfalls!).
Das Loslassen ist sicherlich auch mein Thema!
Liebe Grüße zum Wochenende,
Coco
:t227:
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