Ich bin nicht wütend




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Ich bin nicht wütend

Beitragvon Chord » 02.01.2012, 22:30

Ich bin nicht wütend

Obwohl Roland Düringer in Österreich schon lange bekannt ist, hatte ich es irgendwie geschafft,
bis vor kurzem nie Bekanntschaft mit ihm zu machen - auch nicht aus der Ferne, ich wusste nicht mal wie er aussieht und kannte nur den Namen, das hat mehrere Gründe: a) das Geld für Kabarettbesuche hab ich kaum, und wenn, dann hab ich einen absoluten Kabarett-Liebling, das ist Alf Poier b) auf you-tube hör ich meist nur Musik c) mein Fernsehkonsum ist ziemlich bescheiden und weit unterdurchschnittlich.

Wie es der Zufall(?) so will, drehte ich vor einiger Zeit doch wieder einmal spontan die Flimmerkiste auf, und da lief im Rahmen einer Sendung von Alfred Dorfer (den ich wegen seines sozialen Engagements sehr schätze, als Kabarattist kenne ich ihn auch kaum) als Abschluss das, was daraufhin in den Medien als „die Wutrede“ von Düringer (der dort offenbar einen Gastauftritt hatte) bekanntgemacht und von vielen sehr begeistert aufgenommen wurde, und medial große Resonanz fand.

Meine Gefühle hingegen waren beim Betrachten mehr als zwiespältig. Das Ganze kam mir gespielt vor – nun, das kann man einem Schauspieler schwer verübeln. Die Reaktion des Publikums tat ein übriges.
Beim Zuschauen stieg in mir eine geradezu friedliche Gelassenheit auf, nur gestört von dem kleinen Anflug von Unmut, der mich immer überfällt, wenn mich jemand für irgendetwas zu vereinnahmen versucht – der oder die, ohne mich zu fragen, ob mir das recht ist, „wir“ sagt, und mich mitmeint damit.
In mir geschah Seltsames: Ich hörte den Worten zu, und musste nahezu bei jedem Satz nicken, so oder ähnlich hatte ich vieles selbst, teils schon vor Jahren, formuliert und zu Papier gebracht, die inhaltliche Übereinstimmung lag wohl bei 95% (die paar Prozent Abzüge gabs weil ich dachte „Nun, auch wenn ich nie ein Parteibuch gehabt hab und nie eins haben werde, aber ich bin wohl doch ziemlich links von der Mitte und vielleicht doch Anarchist, und vielleicht doch eher Unterschicht als Mittelschicht …), nur bei jedem „Wir sind wütend“ dachte ich: Da stimmt was nicht, irgendwas stimmt da nicht. Ich war nicht wütend – nicht in dem Moment, und, was hier wichtiger ist, ich hatte auch nicht im geringsten den Eindruck, dass Düringer es war. Nun darf man als Schauspieler/in im Normalfall nicht der Emotion verfallen, die man darstellen will – fast immer wird die Darstellung dann schlecht. Es wäre also wirklich nicht gut gewesen, wäre Düringer auf der Bühne „echt“ wütend gewesen, insofern hab ich auch keine Lösung, ich weiß nicht, was die Ursache war, aber seine Wut kam überhaupt nicht bei mir rüber, auch nicht deren Berechtigung, und das obwohl die Voraussetzungen wohl beste waren in meinem Fall – ich hätte eigentlich gedacht, dass ich gerade mit den angesprochenen Themen leicht (zumindest innerlich) „mobilisierbar“ bin.

Jetzt, beim Schreiben merke ich, dass vielleicht allein das „Ich“ die Lösung gewesen wäre, die mich zufriedengestellt hätte – „ich bin wütend“ – damit hätte der Mensch hinter dem Schauspieler für mich eher Stellung bezogen, „ich bin wütend“, das hätte ich ihm, möglicherweise, abgenommen, „wir sind wütend“ – das kam bei mir als „Rolle“ an, eine die man anzieht, aber auch wieder ablegen kann und in der Regel auch ablegt nachdem die Vorstellung zu Ende ist.

Was also geschah, während er „Wir sind wütend“ darstellte, war, dass ich gebannt das Ganze verfolgte, weniger des Inhalts wegen – dass ich mit dem d’accord ging, war mir bald klar, aber der Form – ich wartete auf eine Pointe, vergebens. Die – für mich traurige – Pointe war die Reaktion des Publikums. Anfangs war es wohl genauso verwirrt wie ich, einige begannen aufzustehen, und immer mehr blökten (sorry, es wirkte auf mich einfach so): „Wir sind wütend“ – anfangs noch unsicher, (ich hatte zunächst noch gedacht, dass das ebenfalls Schauspieler sind, eine Art Kunstaktion, wäre ja nicht das erste Mal, dass Schauspieler/innen sich im Publikum verteilen), dann, in der Sicherheit der Mehrheit, schnell immer lauter und heftiger.

Diese Szene mitzuerleben war für mich im wahrsten Sinn des Wortes beklemmend. Die Reaktion des Publikums, die brachte mich soweit, dass in mir Assoziationen an jene aufkamen, die Hitler ob seiner blendenden Rhetorik in den 30ern und danach massenhaft Beifall klatschten. Die Menschen schienen mir nicht aus ihrem Innersten zu agieren – mein Eindruck jedenfalls, sie wirkten wie Marionetten.
Immer noch war ich mir nicht sicher, ob das nun schon „alles“ war, oder ob noch eine Pointe kam, eine Pointe, die vielleicht die Reaktion der „wütenden“ Stehaufmännchen und –frauchen durch den Kakao gezogen hätte – immerhin lief das Ganze unter Kabarett.

Doch die Pointe war wohl, dass die Menschen ihr Wütchen kühlten (sonderlich gefährlich klang es nicht), beim Hinaustreten dann wohl alles wieder schnell verebbte, und sie nun weitermachen wie zuvor. Einige davon werden sich sogar als krönende Form des gesellschaftlichen Protests dazu animieren lassen, tatsächlich einen mit „Gültige Stimme“ beschrifteten Zettel bei der nächsten Wahl in die Urne zu werfen.

Ob es noch irgendeine Partei gibt, in einer von der Wirtschaft regierten Welt, die an den existierenden Verhältnissen und dem, wozu sie zu verkommen drohen, etwas ändern will und kann?
Viel spricht dafür, dass nicht. Aber „Gültige Stimme“ wird daran auch nichts ändern können, schlimmstenfalls den besseren unter den Parteien, bei denen keine wirklich durchgehend gute und empfehlenswerte mehr dabei ist, Stimmen rauben.

Wer von diesen Leuten im Publikum traut sich im Alltag heute noch zu sagen „Ich bin wütend?“, wenn er oder sie wütend ist? Aber immerhin fand das Thema ein paar Tage lang Eingang in die Medien und berechtigte gesellschaftliche Wut einen Kanal, in dem sie schön versickern kann.
Was allerdings vielleicht noch ein Glück ist, denn bei den „Wir sind wütend!“ schreienden Publikumsmenschen dort hätte ich mich nicht getraut, dafür meine Hand ins Feuer zu legen, dass sie durch blendende Rhetorik nicht auch noch möglicherweise zu ganz anderem zu bewegen wären.

PS: auf die Angabe eines Links hab ich diesmal extra verzichtet, mit den Tags „Roland Düringer“ und „Wutrede“ findet man die Videos sehr leicht (wobei es angeblich auch noch eine Fassung mit einem Betrunkenen gibt – ich hab, glaub ich, die andere gesehen).
Chord
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von Anzeige » 02.01.2012, 22:30

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Beitragvon miljas » 04.01.2012, 10:28

Hallo Chord,

ich habe mir das Video angeschaut (ich glaube, es war die Version mit dem Betrunkenen,
d.h. in der Einführung durch den Sendemoderator spielt Herr Döringer einen Betrunkenen).

Ob die Leute dort spontan aufgesprungen sind?
Aus Deutschland kenne ich es nur so, daß es Beifall, starken Beifall ("Bravo, Huhhuh!",
Zwischenrufe) oder im Extremfall vielleicht einmal "ständing ovations" gibt. Wenn natürlich ein
Kabarettist bei einer politischen Demonstration auftritt und dann solch eine - wie nennt man das? -
Ruf... (es heißt dann immer, daß die Demonstranten "skandierten") - also, wenn dort ein solcher
Slogan gebracht wird, dann kann eine solche Reaktion des gemeinsamen Rufens als Ausdruck der
emotionalen Stimmung sicher zustande kommen.

Ich kenne den Herrn Döringer auch nicht, aber ich stimme Dir zu - es wäre besser gewesen,
wenn er an Stelle von "wir" "Ich" gesagt hätte. Dann kann jeder dazu sagen was er will,
vielleicht: "Ich bin (auch) wütend".

Ich stelle hier auch keinen Link ein - vor wenigen Monaten hat "Erwin Pelzig" (das ist eine Kunstfigur
von Frank-Markus Barwasser) in einem Auftritt im deutschen TV "Fragen" gestellt.
Er leitete alle seine Fragen mit "Ich würde/möchte so gerne (endlich) wissen" ein.

Parteien... ja, Ansammlungen von Gleichgesinnten.
Die Frage ist nur, welches der genaue gleiche Sinn sein soll.
Wogegen und - meist schwierig und oft überhaupt nicht gelöst - wofür?
Und zwar nicht nur schlechthin "wofür", sondern praktikabel, funktionierend - und das besser als
das Bisherige. Natürlich gibt es auch immer die "Abwehr-Diskussionen", daß etwas nicht geht
und nicht gehen kann, weil man es blockieren und verhindern will, um die eigenen Vorteile nicht
zu verlieren.

Konflikte entstehen - immer wieder, weil die Welt in Bewegung ist - und müssen auch immer
wieder gelöst werden. So ist nun einmal die Weltgeschichte.

Viele Grüße - miljas :t252: :t252:

PS.:
Jetzt ist mir noch ein Begriff eingefallen, wie man diese akustische Massenbekundung nennt:
Sprechchor.

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