Herzlich willkommen in Peter's Plauder-Ecke (PPE)

[Coco]

Hallo, Ihr Lieben alle,
dieses Gedicht schickte heute ein Freund meines Mannes. Ich las es erst und las dann, dass es von Tucholsky und von 1930 ist.
Erstaunt? Ich auf jeden Fall.
Liebe Grüße,
Coco,
:t227:


Finanzkrise 2008


Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft's hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!

Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.

Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und - das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!

Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.





Kurt Tucholsky, 1930, veröffentlicht in "Die Weltbühne"

[miljas]

Liebe Coco,

die Überschrift des Themas lautet: "Gedicht aus dem Jahre?"

es tut mir leid - Tucholsky hat viel geschrieben - dieses Gedicht war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht darunter und es stammt somit auch nicht aus dem Jahre 1930.
Schon bei "Leerverkauf", und erst recht bei "Derivaten", mußte ich lachen.

[align=center]Tucholsky nahm's mit "Leerverkauf"
und "Derivaten" noch nicht auf...[/align]


Hier gibt es einen Blog, in dem man Tucholsky vielleicht gut kennt:

[align=center]Tucholsky-Blog[/align]

Danach scheint der Autor ein Nicht-Tucholsky-Mensch zu sein, der das Gedicht unter dem Pseudonym "Pannonicus" hier: http://www.genius.co.at/index.php?id=165 , frühestens ab 1997, veröffentlicht hat (damals wurde nämlich der Verein in Österreich, der die homepage betreibt, begründet).


Viele Grüße

miljas

[Coco]

Hallo m.,
Du hast natürlich voll recht, hätte ich doch auch selbst merken müssen. Mein Mann hat dem Freund geantwortet und bekam folgende Richtigstellung:
Mahlzeit,

um hier mal aufzuklären.

Der Text, also das Gedicht ist von "Pannonicus", was ein Pseudonym von Richard G. Kerdschhofer ist.
Dieser schreibt des öfteren Artikel in der deutlich rechts angesidelten österreichischen Zeitschrift "Zeitbühne".

Die original Veröffentlichung ist hier: http://www.genius.co.at/index.php?id=165 zu finden.

Die Verwechslung die dazu geführt hat, dass jemand, der diese Rundmail gestartet hat den Text mit Tucholsky in Verbindung bracht war dierser Wblog-Artikel: http://weltrandbewohner.blog.volksfreun ... die-krise/

Dieser wurde wohl falsch Verstanden, denn der zweite Text ist von Tucholsky und es ist keine Fußnote zum ersten, sondern die Kopfzeile zum zweiten Text.

Außerdem, dass das was im Internet steht nicht immer richtig ist, ist sicher nicht falsch. Aber das bezieht sich ebenso auf Lexika und Zeitschriften. Ich sage nur "Pschrembl - Steinlaus" und "Stern - Hitler Tagebücher". Zu dem stand im Internet nirgends, das der Text von Tucholsky ist. Außerdem ist es im Falle von E-Mail auch eher mündliche Überlieferung und ob Jesus wirklich aus Wasser wein gemacht hat muss auch nicht sein. Vielleicht hat es einfach nur jemand falsch verstanden.

Der original Text von Tucholsky der in der "Weltbühne" lautete:

Die freie Wirtschaft
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.
Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.
Was ihr macht, ist Marxismus.
Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden …
Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
»Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir.«


Nun denn, alles Liebe,
Coco

:t224:

[toggle bis 12. Jan. 2012]

Auch wenns kein Tucholsky ist (ich hatte beim Lesen sofort gezweifelt), ists trotzdem ein sehr treffendes und nettes Versespiel!
Danke Coco
LG toggle